Ursprünglich wollte ich diesen Beitrag mit meiner idyllischen Kindheit auf dem Dorf beginnen und davon schwärmen, wie viel Zeit meiner Kindheit ich doch auf Spielplätzen und in Wäldern verbracht habe und dass das alles mittlerweile ganz anders sei. Doch je länger ich darüber nachdachte, wurde mir bewusst, dass ich genau in der Zeit aufwuchs, als sich die digitale Welt rasant entwickelte und dass ich jede dieser Entwicklungen so unvorsichtig und leichtsinnig mitgenommen habe wie es nur ging…
Zwischen SEGA und Shitstorms
Ich erlebte den Übergang von SEGA Master System und SNES zu ersten Handys und Computern. Meine Kinderzimmer-Aktivitäten reichten von „eigenen Radiosendungen“ auf Kassette bis hin zu heimlichen Internet-Sessions, die spätestens dann aufflogen, wenn meine Eltern nicht telefonieren konnten. Ab dem Grundschulalter war ich langsam aktiv in verschiedenen Online-Communitys rund um meine damaligen Lieblingsbands und andere Interessen und verbrachte Stunden mit der Gestaltung eigener Fanpages und Foren, meiner Myspace-Seite und der Beurteilung von Freundschaften anhand der jeweiligen Freundeslisten. Ein gewisses „Ah-oh“ schallt mir noch heute manchmal wie ein Phantom durch die Ohren.
Besonders prägnant wird mir dabei in Erinnerung bleiben, wie ich einmal ohne Erlaubnis Fotos eines anderen Fans aus einem anderen Forum für ein paar Grafiken genutzt habe (weil damals genauso wenig auf Urheberrechte geachtet wurde wie heute) und anstatt dass man mich darum bat, das einfach zu entfernen, wurde „unser“ Forum mit Hassnachrichten vollgespamt und bald darauf sogar endgültig geschlossen. Das war so etwas wie mein erster Shitstorm. Weitere sollten Jahre später folgen, etwa weil ich einem Musiker erklärte, was an Tee nicht vegan sein kann.
Oversharing macht Normalos auch nicht cooler
Obwohl ich es gehasst habe und noch immer verabscheue, wenn meine Eltern alte Bilder von mir ohne meine Erlaubnis herumzeigen oder herumschicken und auch zudem ungefragt kommentieren, fühle ich mich so, als sei ich daran selbst schuld. Denn ich habe selbst lange genug massives Oversharing betrieben und betreibe es zeitweise noch heute. Sei es mit peinlichen Statusbeiträgen, merkwürdigen Fotos oder wilden Fanfiction-Fantasien – ich war ganz vorn mit dabei und teilte so ziemlich ALLES, weil ich nach Anerkennung und netten Worten suchte. Doch trotz dieser Bemühungen fühlte ich mich im Endeffekt nie so cool wie die Anderen. Das Gefühl hält auch noch bis heute an – völlig egal, ob ich einen Beitrag komplett ohne Likes oder mit tausenden von Reaktionen veröffentliche.
Leben komplett online – von der Planung und Zeugung bis zum Nervenzusammenbruch
Dabei denke ich mir nur einmal mehr: Wir, die wir die digitale Entwicklung hautnah miterlebt und oft sehr ähnliche Situationen erfahren haben, sollten eigentlich daraus gelernt haben. Doch stattdessen stellen auch noch viele Eltern meiner Generation ihre Kinder in sozialen Medien zur Schau:
Ich will schwanger werden. Wir „üben“ bis es klappt. Ich bin schwanger. Gender Reveal! Wir richten das Kinderzimmer ein und nehmen euch mit. Mein Kind wurde am 12. März geboren und heißt Soundso. Schaut mal, es hat in die Windel gemacht und jetzt ganz schlimmen Ausschlag. Hey, es kann krabbeln! Mein Kind hat etwas gebrabbelt! Jetzt kann es schon laufen, wie die Zeit rast! Mein Kind hat Geburtstag. Hört mal, was es für süße Dinge gesagt hat. So habe ich seinen intimsten Ort eingerichtet und in dieser Schublade befinden sich die Unterwäsche, ist die nicht niedlich? Oh nein, jetzt hat es schlechte Schulnoten, widerspricht mir und hat ein unordentliches Zimmer, schaut euch das doch mal an! Wieso vertraut mir mein Kind nicht und hat Geheimnisse vor mir?
Es kann sehr gut sein, dass solche Dinge auch schon zu meinen Kindheitstagen geteilt wurden. Der große Unterschied besteht jedoch darin, dass es damals noch im einigermaßen privaten Rahmen stattfand. Heute geschieht das alles mittlerweile online – und das, ohne dass sich offensichtlich weder Eltern, noch Kinder der weitreichenden Konsequenzen dieses Handelns bewusst sind. Wozu sich offline dem direkten Umfeld öffnen, wenn es doch viel leichter ist, mittels eines einzigen Postings direkt mit einer kompletten Community drüber in den Austausch zu kommen? Ach, das schadet doch niemandem! Mein Kind, meine Entscheidung!!!!
Für einige ist das Teilen persönlicher Inhalte zum Beruf geworden. Und wer kein Geld damit verdient, verdient zumindest Likes. Diese Form der virtuellen Anerkennung wirkt wie ein digitales Kraulen – es fühlt sich gut an und die Leute werden reihenweise süchtig danach. Der Drang danach ist sogar so groß, dass auch dann weiterhin fleißig gepostet wird, obwohl mittlerweile auch die harmlosesten Postings regelmäßig von Hass und Häme überzogen werden.
Nellys Story – Kurzfilm über eine Influencermutter und die Beziehung zu ihrer Tochter
Ganz schön lange Vorrede dafür, dass ich eigentlich nur einen interessanten Kurzfilm teilen wollte. Er heißt Nellys Story, stammt aus dem Jahr 2023 und hat eine Länge von knapp 19 Minuten. Regie und Drehbuch stammen von Jonas Steinacker und der Film wurde zahlreichen Preisen ausgezeichnet.
Hauptfiguren sind die 9-jährige Nelly und ihre Mutter, die sich offensichtlich als Influencerin online einen Namen gemacht hat und ihre Tochter nun mal wieder für ein Video inszenieren will. Doch bei Nelly hat dieses antrainerte Verhalten bereits Spuren hinterlassen, die nun aus ihr herausbrechen… Und vielleicht verstehst du nach dem Schauen dieses Filmes auch ein Stück weit mehr, wie es zu den vielen Gedanken in diesem Beitrag kam.
Erfahrungen wie meine und die vieler anderer Leute verdeutlichen, dass die Gefahren sozialer Medien abgesehen von kriminellen Aktivitäten deutlich komplexer und auch nicht nur auf eine Generation beschränkt sind. Es ist wichtig, dass wir alle unser Verhalten in der digitalen Welt kritisch hinterfragen. Wir müssen außerdem gut darauf achten, auch weiterhin echte Beziehungen zu pflegen und nicht in der Sucht nach virtueller Anerkennung zu versinken. Denn nur so können wir eine gesunde Balance zwischen digitalem und realem Leben finden und die nächsten Generationen möglicherweise vor schlimmen Erfahrungen bewahren.