Der Eurovision Song Contest ist insbesondere in Deutschland ja wirklich ein Thema für sich. Es gibt immer verschiedene Typen von Leuten, wenn es um diesen Wettbewerb. Dabei sind meistens zwei Gruppen am lautesten: Die ESC-Lover, die ihn atmen und als echte Tradition feiern und die absoluten ESC-Hater, die meist mit wilden Behauptungen um sich werfen wie dass es beim ESC ja nie um Musik gehen würde, sondern nur um Politik oder dass eh alles gleich generisch klingen würde.
Die Fakten sprechen eigentlich eine andere Sprache: Die Ukraine zum Beispiel hat beim ESC nahezu durchweg starke Ergebnisse abgeliefert – und das nicht nur, weil im Moment Krieg herrscht. Und klar, es gibt natürlich Nachbarländer, die sich gegenseitig Punkte geben, aber insbesondere 2025 hat besonders im Bereich der Jury-Votings wunderbar gezeigt, wie abwechslungsreich die Punkte doch verteilt wurden.
Und auch die Genre-Diskussion ist echt so’n merkwürdiges Ding: Ja, der ESC hat irgendwie ein eigenes Schema, wenn man an einen erfolgreichen Songaufbau und Ohrwurmpotential denkt – also vor allem Lieder, die sich weiterentwickeln und nicht einfach durchplätschern. Aber ansonsten ist das musikalische Spektrum Jahr für Jahr erstaunlich vielfältig: von klassischem Radio-Pop über Dance/Electronic-Nummern, oft landestypische Elemente aus etwa Spanien, Griechenland oder dem Balkan, Comedy-Nummern bis hin zu Rock und mittlerweile sogar Pop-Oper. Klar, so richtig rocklastig ist es selten – wahrscheinlich auch, weil live keine Instrumente gespielt werden dürfen – aber sonst gibt es eine größere musikalische Vielfalt als einem viele Leute weismachen wollen. Meine oft gehörte ESC-Playlist umfasst derzeit knapp 130 Songs – und es werden von Jahr zu Jahr mehr.
Über das Jury- und Publikumsvoting lässt sich natürlich immer diskutieren – genau wie über die explizite Aufforderung beim Online-Vote, für mehr Votes alternative Zahlungsmittel zu nutzen. Hier siehst du übrigens, für wen ich im Jahr 2025 jeweils 10 Stimmen abgegeben habe (etwas, was ich sonst so gut wie nie mache):


Den Voting-Prozess kann man – gerade nach all den wilden Vorwürfen zu möglichen Manipulationen – auf jeden Fall noch optimieren. Aber darum soll es mir hier gar nicht gehen.
Was viele irgendwie vergessen: Niemand ist an sein Heimatland oder seinen Wohnort gebunden, wenn es darum geht, wen man anfeuert. Ich persönlich feuere immer die Länder an, deren Musik mir am besten gefällt. Und ich kenne viele, die das genauso machen.
Ein bisschen widersprüchlich ist das Thema Queerness beim ESC: Einerseits darf offiziell keine Regenbogenflagge mehr geschwenkt werden, was ich schon ziemlich traurig finde, weil diese für so viele positive Dinge steht. Andererseits ist immer ein größerer Anteil an Teilnehmenden, ja sogar Gewinner*innen, queer und wedeln in ihren vor-aufgenommenen Voting-Aufforderungen trotzdem verschiedene bekannte LGBTIQ-Flaggen.
Natürlich ist nicht alles perfekt, aber der ESC ist ein europa- und mittlerweile sogar weltweites Ereignis, das Menschen zusammenbringt. Und das finde ich richtig cool!
Meine Eindrücke vom Eurovision Song Contest 2025
Chefsache ESC
In diesem Jahr lief die Suche nach dem deutschen Beitrag ja über die neue merkwürdige Traum-Kombination RTL und Stefan Raab. Ich war 2015 bei einer seiner letzten TV Total-Aufzeichnungen im Studio und finde, er hätte es dabei belassen sollen. Für mich wirkt es, als wäre er etwas zu sehr in der Zeit stehen geblieben und müsse sich nun zu sehr in den Vordergrund drängen. Ich habe mir seine Sendungen zur „Chefsache ESC“ dennoch angeschaut. Dort fand ich einige Interpret*innen gut, aber die Songs als überraschend wenig ESC-tauglich. Den meisten fehlte einfach der Pfiff, bei dem ich sagte: Ja, das bleibt den Leuten in Erinnerung! Dem letztlichen Gewinnersong konnte ich leider absolut gar nichts abgewinnen. Deshalb habe ich mich recht schnell nach Alternativen umgesehen, für die ich stattdessen die Daumen gedrückt habe – und wurde zum Glück nicht enttäuscht.
Mikrokosmos ESC 2025
An sich ist der Eurovision Song Contest eh schon einmal so etwas wie ein fester Anker in turbulenten Zeiten. Er findet jedes Jahr statt und lenkt dabei meist ganz gut von der Schwere der aktuellen Weltgeschehnisse ab – eine Sache, die ich für die mentale Gesundheit ziemlich wichtig finde.
Normalerweise lasse ich mich meist im Finale gerne überraschen, aber dieses Jahr hatte ich Zeit und Lust, mich intensiver mit allem zu beschäftigen. Ich habe mir sogar vorab Tipps von einem Freund geholt, der total im ESC-Fieber steckt, und mich Stück für Stück durch die Songs gehört. Bereits Anfang März war ich mir mit meinem Favoriten sicher – obwohl ich noch lange nicht alle Songs kannte. Ich schaute sogar Teile des schwedischen Vorentscheids, die Semifinals, lernte eine Choreo, bastelte Support-Armbänder und ließ mich von den super süßen gemeinsamen Videos verschiedener Kandidat*innen berieseln.
Eins hat der Jahrgang 2025 besonders gut gemacht: Dieses Gefühl einer Klassenfahrt zu vermitteln. Nicht so eine toxisch blöde, sondern eine richtig wundervolle mit engen Freundschaften und guter Stimmung. Diese Videos haben sogar dafür gesorgt, dass ich Beiträge, die ich anfangs nicht mochte, durch die Persönlichkeit der Menschen plötzlich richtig gut fand – wie zum Beispiel Tommy Cash aus Estland oder Go-Jo, den Milkshake Man aus Australien. Der Song und die Performance waren mir zwar etwas zu sexuell, aber der Song war ein Ohrwurm und die Show blieb im Kopf.
Ich liebte es, wie die Væb-Brüder davon erzählten, dass sie Go-Jo in Minecraft getötet und sich dafür entschuldigen mussten… erst im Verlauf des Videos stellte sich heraus, dass er eine Kuh getötet hatte, die er dann als seinen „Australian friend“ betitelte. Am Ende sprang noch Kyle aus Norwegen ins Video und verkündete: „And I’m (a) horse!“
Ich liebte es, wenn die „Security“ von Tommy Cash andere Künstler*innen festhielt und das mal mehr und mal weniger gelang – etwa bei der polnischen Kandidatin. oder Käärijä sich als Tommy Cash ausgab.
Ich liebte die vielen Tanzvideos zu „Bara Bada Bastu“ von KAJ und allgemein die tollen Momente insbesondere mit KAJ, Kyle, Sissal, JJ, Miriana und Erika, sowie das Verhältnis zwischen Conchita Wurst und JJ.
Und weißt du, was ich noch so richtig feierte? Die Moderation, insbesondere durch Hazel Brugger. Es gab Zeiten, in denen konnte ich nichts mit ihr anfangen. Dann sah ich sie zunächst bei LOL – Last One Laughing und dann bei Joko Winterscheidts Wer stiehlt mir die Show, wo sie mich einige Male heftig zum Lachen brachte. Und was war ich froh, dass sie ihre Art bei der Moderation des ESC beibehalten konnte! Sie war immer etwas steifer als ihre Moderationspartnerinnen, wirkte dadurch aber absolut authentisch. Dazu ihr teils weiterhin sehr trockener und teils auch sehr überdrehter Humor – einfach perfekt für einen eh schon überdrehten Anlass wie diesen!
Meine Favoriten des ESC 2025
Viele behaupten ja, der ESC würde von Jahr zu Jahr „schlimmer“ werden. Für mich war es dieses Mal ein verdammt guter Jahrgang im Vergleich zu vielen davor, auch wenn ich die deutschen Beiträge der letzten 3 Jahre allesamt besser als den aus 2025 fand. Doch aus 2025 sind unglaubliche 16 Songs auf meiner Playlist gelandet – so viele wie noch nie! Normalerweise sind es maximal 5-6. Es ist eben alles Einstellungssache.
Hier meine Top 3. Ich verlinke euch die meiner Meinung nach jeweils besten Performances, also nicht wundern, wenn’s nicht immer der Finalclip ist.
Österreich – JJ mit „Wasted Love“
Einer dieser Songs, bei denen ich, ohne auch nur den Text verstanden zu haben, schon zu weinen angefangen habe. Bisher habe ich bei jedem einzelnen Hördurchlauf weinen müssen. Kickt noch krasser, wenn man mal auf den Text achtet. Ich konnte vorher nie etwas mit Operngesang anfangen, aber JJs poppiger Ansatz ist einfach nur genial, vor allem in Kombination mit seinem heftigen Belting (einem kraftvollen Gesangsstil, du hörst ihn vor allem am Ende der zweiten Strophe deutlich).
Schweden – KAJ mit „Bara Bada Bastu“
Mal wieder ein Beitrag für Schweden, der wirklich toll ist. Zwar irgendwie witzig, aber auch einfach wahnsinnig gut gesungen, eingängig… und der Tanz macht auch Spaß! Gute Waage zwischen lustiger Inszenierung und musikalischem Talent.
Island – Væb mit „Róa“
Im Semifinale aus irgendeinem Grund der absolute Underdog… aber zwei so witzige Brüder mit einem Gute-Laune-Tanz-Song. Einfach nur geil! Sie sagten sogar selbst, dass sie den Song nicht für die Jury gemacht haben, sondern für die Menschen. Und sie feierten sich einfach nur dafür, überhaupt dabei sein zu dürfen. That’s the spirit!
Weitere Songs, die ich beim ESC 2025 besonders mochte
- Estland – Tommy Cash – Espresso Macchiato (Quatsch-Italienisch trifft auf witzige Show)
- Dänemark – Sissal – Hallucination (könnt ein Song von Loreen sein)
- Armenien – PARG – Survivor (angezogen hätte ich es noch besser gefunden)
- Niederlanden – Claude – C’est la vie (mein LALALA-Ohrwurm 2025)
- Norwegen – Kyle Alessandro – Lighter (sage Kyle noch eine krasse Karriere voraus)
- San Marino – Gabry Ponte – Tutta L’Italia (absoluter Party-Ohrwurm)
Und hier noch Songs, bei denen ich mich ärgere, dass sie nicht ins Finale gekommen sind, sowie andere Highlights aus den Shows
- ausgeschieden: Tschechien – ADONXS – Kiss Kiss Goodbye
- ausgeschieden: Australien – Go-Jo – Milkshake Man
- ausgeschieden: Kroatien – Marko Bošnjak – Poison Cake
- Highlight: „Made in Switzerland“ Musical Performance
- Highlight: Käärijä & Baby Lasagna
Ich hoffe, dieser Recap fängt die besondere ESC-Stimmung 2025 gut ein und gibt dir ein Gefühl dafür, warum ich mit vielen anderen Leuten den Contest so liebe und gern zelebriere – trotz aller Kritik und Diskussionen.