[dropcap]I[/dropcap]ch wusste nach dem Gig bei Bochum Total nicht so recht, was ich von den Blackout Problems halten sollte. Irgendwie gefiel mir ihre Show und ihre Art, gleichzeitig empfand ich sie irgendwo auch als eintönig.
Aktuelle Lebensumstände trieben mich schließlich dann doch dazu, mir einen Eindruck über das Album „Holy“ zu verschaffen. Eine gute Entscheidung?
Selten bin ich mit einer so großen Unsicherheit wie dieses Mal an ein Album herangegangen. Bevor ich mir die ganze Sache weiter schlecht rede, widme ich mich aber lieber den Fakten. Was haben die Blackout Problems da genau fabriziert?
Name | Holy von Blackout Problems ¹ |
Erschienen | am 05.02.2016 via Uncle M |
Musikstil | Englischsprachiger Alternative Rock |
Spieldauer | 50:35 min verteilt auf 13 Songs |
Weitere Infos | |
zu erwerben via Amazon*, iTunes & Co. |
Das ist es nun also, das neue Album der Blackout Problems. Dreizehn Songs stark. „Holy“ heißt das gute Stück. Heilig. Also ich halte nicht so viel von Heiligen, aber jeder wie er so mag.
Man erkläre mich für blöd, aber ich bin mir zunächst nicht darüber sicher, was das Cover darstellen soll. Ich weiß nur, dass die Location auch in zwei der Videos zu den neuen Songs auftaucht – One und Follow me. Ein Blick in die Videokommentare bringt mich zum Grübeln. Drehort war Brighton. Brighton… hatte ich nicht exakt heute noch aus Prokrastinationsgründen Videos eines bekannten deutschen YouTubers auf Reise durch Großbritannien gesehen? Er saß mit seiner Freundin in Brighton am Meer und erzählte davon, dass der West Pier vor nicht allzu langer Zeit – übrigens im Jahre 2014 – abgebrannt sei. Seine Freundin ergänzte, es gäbe Gerüchte darüber, das Bauwerk sei aus Konkurrenzgründen angezündet worden. Womit dann auch geklärt wäre, worum es sich auf diesem Cover genau handelt. Mind = blown.
Der Rest ist schnell zusammengefasst – ein paar grafische Spielereien, etwas auf älter getrimmt, irgendwie fehlerhaft. Der Effekt erinnert mich ein wenig an „Missingno“, einen bekannten Bug aus den Gameboy Color Spielen Pokémon Rot und Blau.
Was uns der Künstler damit sagen will? Man weiß es nicht. Vielleicht steht das alles ja für eine Menschheit voller Bugs und diverser Denkfehler, vielleicht auch nicht.
Was meines Erachtens nach jedoch noch zu erwähnen ist, sind die vielen verschiedenen Versionen, in denen das Album verkauft wird. Da gibt es die Limitierte Fan-Edition, Deluxe Edition, Vinyl, oder MP3-Download. Ob man nun also Bock auf Live-Songs, Making Of Material, unveröffentlichte Interviews, Fotobuch, Postkarte und Sticker hat oder es nur auf die musikalischen Werte anlegt – für jeden Musikliebhaber dürfte da etwas Passendes zu finden sein.
Apropos Musik – ich möchte ungern noch weiter um den heißen Brei herumreden. Deshalb widme ich mich nun den musikalischen und textlichen Werten der Platte, welche übrigens vom Heisskalt-Gitarristen Philipp Koch produziert wurde.
Der erste Track trägt den Namen „One“ und wirkt wie die Ruhe ganz kurz vor dem Sturm. Zunächst ganz ruhig baut sich dieser Song als der perfekte Opener auf. Ein gewisser Hauch von Dreck in Marios Stimme schafft auch ohne große andere Mittel von Anfang an einen ganz besonderen Ausdruck. Missstände werden ohne Wenn und Aber thematisiert: „One lives in the gutter, with dreams spilled on the floor / The otherʼs in a castle and owns a crown and a thrown / The part thatʼs on the streetsis struggling to live on / The otherʼs safely at home.“
Nahtloser musikalischer und textlicher Übergang zu „Of Us“. Das kann alles, nur kein Zufall sein. Mich beschleicht das Gefühl, das alles habe System. „There are some left in the gutter who pick their dreams up from the floor / Some who wonʼt give up on the world around us all“. Kann es sein, dass das komplette Album ein – zugegebenermaßen recht negatives – Abbild der Gesellschaft darstellt und zum Ausbruch daraus aufzurufen vermag?
Ein musikalischer Umbruch. Leicht verzerrt anmutende Gitarre, eine solide rockig-punkig-alternative Note und ein eindeutiger Sachverhalt. „We Are Free“ schockiert durch seine sehr bildlich beschriebene Geschichte. Ein Junge bekommt die Schule nicht auf die Reihe. Er weiß, seine Mutter prostituiert sich, um über die Runden zu kommen und sich und dem Kind etwas bieten zu können. Für eine Nacht bekommt sie von ihrem Zuhälter einen glatten Tausender. Der kann es sich leisten. Eigentlich möchte man ihn dafür verurteilen, doch schaut man hinter die Fassade, stellt man Eines fest: eigentlich lebt er ein ähnlich verkorkstes Leben wie sie. Trotz verschiedener Lebensgeschichten und Mittel sehnen sich beide nach demselben: nicht nach Geld oder Macht, sondern ein Leben, das es zu leben wert ist. Sie sehnen sich nach Sicherheit und Geborgenheit. Welch kaputte Gesellschaft. So viel zur ach-so-schönen Freiheit.
„The Drive“ beginnt mit einem treibenden und nahezu jugendlich leichten gitarrenlastigen Part. Dieser Song geht schon deutlich in diese High School Punkrock-Richtung, in die ich die Blackout Problems schon vor geraumer Zeit einmal steckte. Was, wenn du und deine Freunde älter werden, die Lieben von früher schwanger werden, sich in der einstigen Heimat aber fast nichts getan hat? Die Armen bleiben arm, die Reichen werden reicher und irgendwie fühlt es sich so an, als sei man ein wenig aus den alten Zeiten herausgewachsen.
„Boys Without a Home“ charakterisiert vor allem das Band einer starken Freundschaft. Musikalisch zeigt sich dies vor allem durch einen verdammt eindringlichen Chor-Part im Refrain: „Come what may I stand right beside you to hold your hand / The smallest gang around / Iʼll be here to hold your hand.“
Allgemein geht dieser Song deutlich musikalisch nach Vorn und strotzt vor Selbstbewusstsein. Besonders hart feiere ich hier übrigens den Solo-Gesangspart von Nathan Gray, bekannt aus Bands wie Boysetsfire und I am Heresy. Richtig stark!
Ein weiterer nahtloser Übergang. Der nächste Titel heißt „Step Up“ und schafft zu Beginn einen starken Kontrast zu den bisherigen Songs des Albums, kommt er doch recht sphärisch und etwas ruhiger daher. Nach etwa anderthalb Minuten nimmt der Song zwar noch ein wenig an Fahrt auf, bleibt aber trotzdem von träumerischer und nach Vorn blickender Natur. „Life is beautiful not perfect / Timeʼs running out / Have you done enough or didnʼt start at all / Now keep your head up high and follow me down to the square / And we start all over again.“
„Follow Me“ haut von der ersten Sekunde an so richtig rein und hinterlässt so einen bleibenden Eindruck. Besonders die Strophen werden stark von einem sehr treibenden Schlagzeugrhythmus dominiert. Unweigerlich schießen längst traurigerweise alltägliche Bilder vor das geistige Auge: Flüchtlingsströme auf der Suche nach Frieden, der schmale Grat zwischen Leben und Tod. „I am literally dying while trying to find peace / The ocean carries lost souls / Donʼt expect me to call / Hand in hand after all“
Gänsehaut pur.
Was folgt, ist meiner Meinung nach jetzt schon mein Song des Jahres. Wann auch immer ich mir dieses Album zum Rezensieren angehört habe, immer bin ich bisher bei „The King“ hängen geblieben und habe in der Zeit die Welt um mich herum vergessen. Vielleicht erklärt das auch, dass ich diesen Titel binnen weniger Tage bereits über 400mal gehört habe. Dieser Song ist einfach nur ein absolutes Brett, obwohl er nichts grundlegendes Neues für dieses Album behandelt. Ganz ruhig wird er eingeleitet, ganz harmlos kommt er daher, doch allein der Text spricht für sich: „The system we live in splits the world we know / Into kings in a castle and some rats on the floor / One part has everything and even asks for more / The otherʼs in the gutter – got too less to live on.“ Innerhalb der ersten Strophe baut der Song an Spannung auf bis er sich im Refrain das erste Mal so richtig entfaltet und ein regelrechtes Kribbeln verursacht. Ganz ehrlich – beim Hören dieses Songs fühle ich mich nahezu unbesiegbar. Für mich ist „The King“ ein Auf und Ab der Emotionen – irgendwo zwischen Wut auf die Gesellschaft, Resignation und Kampfgeist. Aber hey – hast du nichts, kannst du auch nichts verlieren. „Iʼd rather be rat than a king if I could choose.“
„Hold On“ wirkt zunächst, als würde man eine Platte vor- oder zurückspulen. Schnell entpuppt sich der Track als so etwas wie eine Durchhaltehymne. Der Song handelt bildlich gesehen von der Trennung der Eltern und das Eingeständnis, man wäre in dieser Situation gern mehr für seinen eigenen Vater da gewesen. Doch der Schock saß zu tief, um reagieren zu können. Ausgerechnet der Vater macht dem Sohn Mut. Jeder macht Fehler und solange du Fehler begehst, weißt du zumindest, dass du es versucht hast. Es gibt immer einen Grund, weiter zu machen und zu kämpfen.
Viel choraler Gesang transportiert ein gewisses Gemeinschaftsgefühl und den Blick nach Vorn. Manche Kämpfe gewinnt, andere verliert man eben. Aus Beidem lernt man und das ist auch okay so. So ist das Leben. Ich könnte mir übrigens vorstellen, dass sich dieser Song live als absoluter Mitgröltitel etabliert.
„The National“ irritiert zunächst kurz. Wo kommt denn auf einmal dieses Klavier her? Was sucht das bitte in einem Song der Blackout Problems? Was für ein Stilbruch! Aber wieso kommt mir die Art und Weise des Instrumentals irgendwie bekannt vor?
Ein Blick zurück auf den Songtitel – kurzes Grübeln – und stolz die Referenz zu The Nationals „Fake empire“ erkannt. „Come what may I will sing along to the National on the radio / Donʼt fall asleep in my fake empire.“ Okay, das ist dann schon wieder verdammt cool, obgleich dieser Track mir trotz allem zu sehr aus dem Rahmen fällt. Für mich sind Blackout Problems halt mehr so dieser In-die-Fresse-und-noch-ein-bisschen-abtanzen-Rock, bei dem man auch mal gut und gern das Drumherum vergessen kann.
Der Sound wird nun wieder etwas vertrauter und deutlich Rock-lastiger. Die Musik nimmt an Tempo auf, ein prägnantes Schlagzeug kommt ins Spiel. Es ist Zeit für „Black Coffee“, einen weiteren grandiosen Mutmacher-Song mit Gemeinschaftsgefühl im musikalischen Stil nahe dran an Simple Plan oder blink-182. Irgendwie ist es traurig genug, dass die Geschichten zweier Coming Outs überhaupt nicht unrealistisch sind. So krasse Ablehnung steht für Viele noch immer an der Tagesordnung. Besonders spannend ist in diesem Track die Kritik über die Ausübung des Christentums: „The church might deny / If Jesus was alive / He wouldnʼt preach what you pray; let every heart decide / Get it straight / I am here to say / You homophobic shitheads should fuck off and not pray.“ Da gibt es absolut nichts mehr hinzuzufügen. Good job, good message, well done.
„Into the Wild“ lockt mich dann textlich tatsächlich aus der Reserve. Ich bin mir nicht sicher, ob ich den Sinn dahinter wirklich erfasse oder schlimm im Dunkeln tappe. Für mich klingt der Song danach, sich nicht mit der im hohen Maße materialistischen und irgendwo auch auf Lügen aufgebauten Gesellschaft identifizieren zu können. Es gibt wichtigere Werte als Erfolg oder Besitztümer. Außerdem wird der amerikanische Schriftsteller und Philosoph Henry David Thoureau zitiert: „Rather than love, than money, than fame, give me truth.“
Mich lässt der Sachverhalt nicht in Ruhe, dass ich mit dem Inhalt des Tracks nicht klar komme und ich werde etwas später endlich fündig: Quelle der Inspiration scheint der gleichnamige Film „Into the Wild“ zu sein. Man, wie verdammt naheliegend!
„Poets of Protest“ spannt schließlich einen großen musikalischen Bogen zurück zu „One“ und „Of us“. Es scheint, als wären diese Songs aus einem einzigen Guss entstanden. Textlich ist der letzte Track des Albums wohl am ehesten als Hommage an große Poeten zu sehen, deren Waffen aus Stift und Papier bestanden und welche die Schlacht für sich entscheiden konnten. Neuanfang liegt in der Luft.
Ich muss zugeben, dass ich die Blackout Problems letztes Jahr bei Bochum Total eiskalt unterschätzt habe. Die Band bleibt ihrem Sound im Großen und Ganzen treu und liefert mit „Holy“ ein äußerst schnörkelloses, stimmiges, gesellschaftskritisches und zugleich ermutigendes Album ab. Für mich ist es bereits jetzt eines der bedeutendsten Alben des Jahres 2016. Wer sich „Holy“ nicht kauft oder die Blackout Problems auf Tour besucht, dem ist irgendwie auch nicht mehr zu helfen. Holy? Holy fuck, ist das gut!
Anspieltipps: das Gesamtwerk! Müsste ich mich dennoch entscheiden, wären es wohl „Follow Me“, „Boys Without a Home“, „The King“, „Black Coffee“ & „Poets of Protest“