[dropcap]N[/dropcap]ach meiner einschlägigen Jugend voller 5BUGS-Songs liegt mir die Zukunft der ehemaligen Bandmitglieder natürlich besonders am Herzen. Während es die Einen zu DIE XYZ verschlagen hat, sind aus anderen Teilen der Band TÜSN entstanden. Und TÜSN klingen gewiss… anders. Ganz anders. Und trotzdem reizt mich irgendwie genau das. Aus diesem Grund habe ich das frisch erschienene Album „Schuld“ einmal genauer inspiziert.
TÜSN – das sind Sänger und Keyboarder „Snöt“, Bassist Daniel und Schlagzeuger Tomas aus Berlin. Der Bandname hat übrigens keine tiefgehende Bedeutung, das Ü kommt nur ziemlich selten in der Popwelt vor. So kann man’s auch machen.
Das erste Mal aufgefallen sind mir die Menschen von TÜSN bei den New Music Awards 2015. Als ich dann irgendwann die Vorgeschichte zweier Bandmitglieder entdeckte, war für mich klar: Ich muss mich mal genauer mit der Band beschäftigen!
Name | Schuld von TÜSN |
Erschienen | am 12.02.2016 via Vertigo Berlin |
Musikstil | Synthie-Indiepop auf Deutsch |
Spieldauer | 45:42 min verteilt auf 12 Songs |
Weitere Infos | |
zu erwerben via Amazon*, iTunes & Co. |
Zum Cover gibt es dieses Mal erstaunlich wenige Worte zu verlieren: Der Künstler bietet uns viel Weißraum, umgeben von einem goldenen Rahmen. Im Zentrum des Geschehens: ein breiter Balken, jedoch nicht bis zum Rahmen reichend und ebenfalls mit einem Goldschimmer versehen. Oberhalb dieses Balkens befindet sich der Bandname – TÜSN. Darunter: Der Name des Albums in Majuskelschrift: „SCHULD“.
Um welche Schuld mag es gehen? Ist jemand schuldig, wird er zum Schuldigen erklärt? Geht es vielleicht vielmehr darum, dass Menschen stets über Andere urteilen oder wird die Schuld auf alle Anderen abgewälzt? Wir werden sehen…
Zwischen „Uh“ und Oh“, mal vom Interpreten selbst und dann wiederum von einer femininen Stimme unterstützt, viel Moll und sphärischen Klängen baut sich Sänger „Snöt“ alias Stefan Fehling zu einer gewissen Kunstfigur auf. Überwiegend zur Theatralik neigender emotionaler Gesang, Japsen und laute Atemzüge treffen auf düsteren Synthiepop. So sehr das Album in Sachen Sound zum Augenschließen und Treibenlassen einlädt, so absurd mag dieser Gedankengang klingen, wenn man versucht, sich einmal mit den Texten zu beschäftigen. Das klappt mal mehr und mal weniger gut.
Der eher klaviergetragene atmosphärische Opener „Humboldt“ etwa erweckt genau wie das nach einer Theaterinszenierung klingende „Hannibal“ auf den ersten Blick eine Gestalt aus der Geschichte erneut zum Leben. „Sag‘ bist du das wirklich – oder tust du’s für mich? Und fühlst du dich frei, frei, frei oder schränk‘ ich dich ein? Begehrst du noch And’re – bin ich in Wahrheit allein?“ klingt dann aber tatsächlich ein bisschen nach Freiheit und Selbstverwirklichung und vielleicht auch ein wenig nach einer zu hinterfragenden Liebe.
„Zwang“ klingt für mich nach dem Inbegriff einer modernisierten Variante von Depeche Mode. Und ich hasste diese Band knappe zwei Jahrzehnte lang und verachtete ihre Musik zutiefst. Doch der Sound von TÜSN holt mich so langsam ab, was vielleicht auch an der nicht so blechernen Produktion liegen mag. Außerdem laufen hier aufgrund der besonders affektierten Artikulation ganz spezielle mimische und gestische Kunstwerke des Sängers Snöt vor meinem geistigen Auge ab. Es ist wahrlich wie ein innerer Zwang.
Das besonders gruselig anmutende vorwiegend in Moll gehaltene „Sturm“ entfaltet seine ganze musikalische Wirkung durch ein besonders gut pointiertes Zusammenspiel von Schlagzeug und wütender Artikulation nahe der eines gereizten wahnsinnigen Felix Schönfuss. „Ein Krieg hört niemals auf – sinnlos, ihn zu führen. Die Angst ist süchtig nach dem Streit.“
Eine klare Linie fahren sie auf jeden Fall – und das nicht nur mit dem Song „Schwarzmarkt“ – „Reden ist Silber, Tanzen ist Gold“. Man möchte es jedem ins Gesicht brüllen und sich einfach auf der Tanzfläche eines Clubs treiben lassen.
Doch wo TÜSN in einem Moment noch relativ gut zu verstehen sind, schüttle ich an anderer Stelle eher ungläubig und verwirrt den Kopf. Ist „Duschen“ etwa mit seinem eingängigen „Ich bin endlich intim“ eigentlich ein Fall von musikalischer Masturbation? Und wieso muss das Reinwaschen unter der Dusche denn unbedingt mit dem Dasein im Mutterleib verglichen werden?
Oder „Wasser“ etwa, welches durch seine Orgelklänge und den choralen Frauengesang eh schon ein wenig befremdlich anmutet und erst gegen Ende so richtig in Fahrt kommt? „Hinter dem Ende ein Anfang – alles fügt sich irgendwann so wie das Wasser, das die Wolken hält“. Meinen das TÜSN eigentlich so oder machen sie viel Lärm um nichts und sehen sich eher als eine Fortsetzung des „Mandalo„-Geniestreichs von – frei nach dem Motto „Anschein von großem Pathos und nichts dahinter“? Wollen sie in die Fußstapfen des Grafen von Unheilig treten? Man weiß es nicht so recht. Und vielleicht ist es auch genau das, was mich so fesselt und nicht an den schlageresken Einschlägen wie im unglaublich hartnäckigen Ohrwurm „Ewig allein“ verzweifeln lässt, obwohl man mich mit so etwas normalerweise verjagen kann.
Wäre ich nicht Teil der Straight Edge Bewegung, so würde ich mir zu der Musik von TÜSN wahrscheinlich irgendetwas einwerfen. Vielleicht verstünde ich dann wirklich, wovon all die verschleierten Texte handeln.
TÜSN sind einfach anders, eher unkonventionell, unerwartet, eingängig und überraschend deutsch. Wieso deutsch? Nun ja, sie leiden viel und gern… und treffen damit ja eigentlich ziemlich gut den Nerv der Zeit.
Anspieltipps: Ewig allein, Schuld, Schwarzmarkt, Ihr liebt mich jetzt