44
Views

Wie lange ich auf diesen Augenblick gewartet habe… mehr als drei Jahre nach Veröffentlichung ihres Debütalbums Schuld freue ich mich unglaublich darüber, euch meine Meinung zur neuen TÜSN-Platte Trendelburg mitteilen zu dürfen.

Trendelburg ist eine Kleinstadt im Landkreis Kassel in Nordhessen. Obwohl nur knapp 5.000 Einwohner*innen in diesem Ort leben sollen, brachte er dennoch es zu einer gewissen Berühmtheit. Der Grund liegt weit in der Vergangenheit: Die Gebrüder Grimm machten Trendelburg zum Schauplatz der Erzählungen um Rapunzel. Doch auch ohne das bekannte Märchen um das Langhaarmädchen ranken sich viele Mythen und Sagen um die Umgebung des Reinhardswaldes.
Einst soll etwa ein Geschlecht mächtiger Riesen die Schlösser und Burgen dort bewohnt haben. Der mächtigste unter ihnen – man nannte ihn Kruko – hatte drei Töchter: Saba, Brama und Trendula. Letztere galt als das schwarze Schaf der Familie und sorgte mit ihrem eigensinnigen Handeln für viel Unheil. Die anderen beiden Schwestern hielten den vielen Ärger um Trendula verständlicherweise auf Dauer nicht aus. Nachdem Brama durch all ihren Kummer sogar erblindete, baute sie sich am anderen Ufer der Weser ein eigenes Zuhause – die Bramburg. Auch Saba zog ihre Konsequenzen aus der misslichen Situation mit Trendula und schuf im nahegelegenen Reinhardswald die Sababurg. Während Brama und Saba weiterhin engen schwesterlichen Kontakt pflegten, fühlte sich Trendula plötzlich ausgeschlossen. In einem großen Streit zwischen Saba und Trendula wurde Saba schließlich vor Zorn von ihrer eigenen Schwester erschlagen.
Als eines Tages ein schreckliches Unwetter über Trendelburg aufzog und auch nach sieben Tagen und sieben Nächten nicht verschwinden wollte, waren sich die Bewohner einig: Der Zorn des Himmels kann nur noch durch ein Opfer besänftigt werden. Im Losverfahren wurde ausgerechnet die böse Trendula als jenes auserkoren. Sie starb durch einen gigantischen Blitz auf offenem Feld. Nach ihrem Tod verzog sich das schlimme Gewitter augenblicklich, die große Not war vorbei und Trendelburg gerettet.

Wieso ich euch diese Sage so ausführlich erzähle? Herzlich Willkommen zu meiner Rezension des neuen TÜSN Albums Trendelburg, welches am heutigen Freitag, dem 08. März 2019 offiziell das Licht der Plattenläden und Streaming-Dienste erblickte.

Überblick: TÜSN – Trendelburg

Erinnert sich noch irgendwer an meine erste TÜSN Rezension? Damals war ich noch im großen Fieber, weil ich meine kleine Jugendliebe 5BUGS so vermisste und mir einen adäquaten Ersatz erhofft hatte. Dass das alles dann so anders klingen würde und mich dann Monate später plötzlich total packen würde, hatte ich damals absolut nicht auf dem Schirm.
Heute sitze ich hier, habe mich einen knappen Monat lang intensiv mit dem neuen Album Trendelburg auseinandergesetzt. Denn ich bin ehrlich: Ich will’s dieses Mal besser machen.

Äußere Werte: TÜSN – Trendelburg

In alter Blogtradition widme ich mich zunächst kurz dem Cover:
Zwei Hände, unnatürlich nah aneinander, die Finger der jeweiligen Hände aneinander gepresst, dunkle Fingernägel. Dazwischen ein Blitz. Auf großartige Farben wird verzichtet, der Hintergrund ist neutral gräulich gehalten, so stechen die dunkelroten Hände, die schwarzen Manschetten, Fingernägel und der Blitz weiter hervor. Bitte nagelt mich nicht darauf fest, aber mich erinnert der Stil dieser Illustration an einen Scherenschnitt.
Solltet ihr nun die Einleitung aufmerksam gelesen haben, müsste nun vor allem eines in euren Köpfen aufploppen: Wurde Trendula nicht geopfert, starb durch einen Blitz und konnte die Welt um Trendelburg so zumindest vor weiterem Unheil bewahren? Ist das Cover nun also eine von zahlreichen potentiellen Anspielungen auf die Sage? Ich denke schon.
Doch wieso befasst sich eine neuzeitliche Band aus Berlin nun eigentlich mit einer solchen Sage? Ein äußerst wichtiges Detail drängt sich mir beim Überblicken des Wikipedia-Eintrags zu Trendelburg fast schon penetrant auf: Unter der Kategorie „Persönlichkeiten“ ist ein gewisser Stefan Fehling aufgeführt, welcher im Jahre 1982 in Trendelburg geboren wurde und uns allen heute weitaus besser als Snöt und somit Sänger der Band TÜSN bekannt sein sollte. Was ihn darüber hinaus dazu bewegte und wie er die Geschichten um seine Geburtsstadt von Klein auf rezipierte, würde ich ihn zu gern einmal in einem persönlichen Interview fragen…

TÜSN Köln | Schallgefluester
TÜSN im Kölner Luxor.

Innere Werte: TÜSN – Trendelburg

Ich denke, wir müssen uns nicht mehr darüber unterhalten, dass TÜSN deutschsprachigen Synthie-Pop machen – düster, nachdenklich, emotional, aber vor allem wahnsinnig künstlerisch. Da ich mich musikalisch nicht allzu weit aus dem Fenster lehnen mag, belasse ich es aus dieser Perspektive auch dabei und widme mich vor allem der textlichen Ebene des Albums.

Als würden von der Sagenstunde zu Beginn des Beitrags und der kleinen Analyse des Covers nicht noch genug Querverweise und Bilder in meinem Kopf herumspuken, ist der Opener des Albums kein geringerer als der Song Trendelburg. Der Song punktet nicht nur mit dem Kontrast zwischen verhältnismäßig ruhigen Strophen und auffällig laut inszeniertem Refrain. Besonders textlich hat er es in sich:
König Ludwig, Julius Cäsar, Napoleon und Kleopatra sind zur Feier geladen – Alles bedeutende Namen großer Herrscher*innen längst vergangener Zeiten mit brisanten Biographien. In der zweiten Strophe stoßen an Stelle bekannter Persönlichkeiten nun die menschlichen Güter Religion, Volk (Demokratie), Geld und Liebe dazu. In beiden Fällen werden vor allem die zerstörerischen Seiten dieser beleuchtet. Sie alle gehören zu den Gründen unzähliger Intrigen, Kriege, Morde und anderer (menschlicher) Grausamkeiten.

Und die Trendelburger Sage prophezeit:
Bis die Wolken brechen ist es nicht mehr weit

Steht nun ein weiteres Unwetter ins Haus? Muss jemand genau wie Trendula für die vielen angerichteten Grausamkeiten zur Rechenschaft gezogen werden?

An alle Riesen
Die Party ist tot
Willkommen in Trendelburg
Hört das Urteil für euer Versagen:
Ihr werdet alle vom Blitz erschlagen!

Je öfter man den Opener des Albums hört, desto mehr Querverweise fallen auf. Wer also gern mehr über den Song philosophieren mag, kann ihn wie ich in Dauerschleife hören und mir die Gedanken dazu gern in die Kommentare packen.

Es fühlt sich für mich so an, als könne man vor allem zwei größere Lager innerhalb des Albums ausmachen: Da haben wir einerseits durch und durch künstlerische Songs wie Trendelburg, Kranke heile Welt, Schwarzer Lambada, Schlaflose Inkubation oder Letzter Tag: märchen- und sagenhafte Metaphern und Wortspiele initiieren ein wirres Kopfkino, spielen auf menschengemachte (tendenziell eher neuzeitliche) Probleme oder hier und da auch mal etwas Liebe an und erschließen sich dennoch auf den wie vielten Blick auch immer noch nicht komplett. Sie sind musikalische Kunstwerke, von der Realität inspirierter Wahnsinn wie man ihn auch schon länger von TÜSN kennt.

Besonders Kranke heile Welt sticht aus diesen Songs für mich dadurch heraus, dass es in den Songs von TÜSN bis hierhin seltener vorkam (mir fällt bisher nur Frieden vom ersten Album ein), dass sie sich – wenn auch geschmückt durch eine sehr an Fabeln angelehnte Sprache und eine angedeutete „wir gegen den Rest der Welt“-Liebesgeschichte – mit der Gesamtgesellschaft auseinandersetzten:

Wir brauchen Therapie für diese kranke Welt

Auf der anderen Seite stehen Lieder wie Zweifel, Melanchotherapie und Made in Germany. Sie wirken im Kontrast deutlich klarer, finden auch textlich weitaus deutlicher im Hier und Jetzt statt, befassen sich mit Realität und Persönlichkeitsbildung, sind deutlich als menschliche Reflexionen auf persönlicher und gesellschaftlicher Ebene erkennbar.
Zweifel etwa hat mir schon beim ersten Abspielen Tränen in die Augen getrieben, weil es so gut beschreibt, wie man sich manchmal einfach ins seinen eigenen Gedanken verrennt. Doch es liegt eigentlich auf der Hand, dass man nichts tun kann, solange man sich selbst im Weg steht. Obwohl ich kein allzu großer Fan stetiger Wortwiederholungen bin, packt mich dieser Song immer und immer wieder, was nicht zuletzt auch am Höhepunkt des Tracks liegen mag, der sich auch musikalisch durch einen insgesamt höheren Synthiepart noch einmal deutlich abhebt:

Ja, es fällt so leicht,
so leicht, daran zu glauben,
dass ein einziges Jahr alle Vielleichts zu Boden haut.
Zu leicht.
Bitte schenk dir das Vertrauen,
dass jede Entscheidung neue Träume mit uns baut.

Ähnlich ging es mir mit Melanchotherapie. Dieser Song handelt meiner Interpretation nach davon, dass es vollkommen in Ordnung und sogar notwendig ist, in Melancholie und Selbstmitleid zu versinken, um sich und seine Lebensziele besser kennenzulernen und aktiv dran arbeiten zu können.

Melanchotherapie, Melanchotherapie
Ich reiße Altes nieder, um mich neu zu arrangieren

Made in Germany schafft bei mir durch die eher neuzeitliche Erzählweise und Rhythmen zwischen gefühltem Herzrasen und Ruhepuls ein Gefühl von Beengung. Und das ist auch gut so, denn mal ehrlich, wenn du dir die aktuellen Entwicklungen so anschaust:

Bist du stolz auf „Made in Germany“?

Und ehe man sich versieht, kommt da wie aus dem Nichts Küsn um die Ecke, ein musicalhafter 80’s-Song, der im Vergleich zum Rest des Albums fast schon wieder banal wirken mag und auch schon ohne das Sing-Along-Video zum Mittanzen verführte.

Fazit: TÜSN – Trendelburg

Trotz vieler gewohnt metaphorischer Umschreibungen schaffen TÜSN mit Trendelburg gerade im Vergleich zum Debütalbum größere Identifikationsmöglichkeiten innerhalb ihrer Musik. Gekonnt legen sie einen Spagat zwischen fantastischer Sagenwelt, topaktueller Gesellschaftskritik, Reflexion und Befindlichkeiten hin, ohne sich und ihren musikalischen Stil zu verraten. Für mich gehört Trendelburg jetzt schon zu den Top-Alben des Jahres 2019.

Anspieltipps: Trendelburg, Zweifel, Melanchotherapie
(Ich könnte eigentlich das ganze Album aufzählen, wäre aber auch langweilig, ne?)

TÜSN auf „Willkommen in Trendelburg“-Tour 2019

26.04.2019 – DE – Bremen – Tower
27.04.2019 – DE – Rostock – Helgas Stadtpalast
28.04.2019 – DE – Hamburg – Nochtspeicher
29.04.2019 – DE – Frankfurt am Main – Nachtleben
01.05.2019 – DE – München – Backstage
02.05.2019 – DE – Nürnberg – Club Stereo
03.05.2019 – DE – Saarbrücken – Garage Club
04.05.2019 – DE – Osnabrück – Kleine Freiheit
05.05.2019 – DE – Hannover – LUX
07.05.2019 – DE – Köln – Blue Shell
08.05.2019 – DE – Leipzig – Moritzbastei
09.05.2019 – DE – Braunschweig – Eule
10.05.2019 – DE – Berlin – Urban Spree

Tickets gibt’s wie immer wo’s Tickets gibt.

Article Tags:
Kategorien:
Alles