Im Januar 2025 erhielt ich eine Diagnose, die mein Leben grundlegend veränderte. Sie half mir, meine Unsicherheit und den Kampf mit für mich bis dahin unerklärlichen Problemen des Alltags ein Stück besser zu verstehen. In diesem Artikel möchte ich von meinen Erfahrungen berichten und damit auf die oft übersehenen Symptome von ADHS bei Mädchen und Frauen eingehen.

Vorab ein kleiner Disclaimer: Ich bin keine Ärztin oder medizinische Fachkraft. Dieser Artikel basiert auf meinen persönlichen Erfahrungen und Recherchen und ersetzt keine professionelle medizinische Beratung oder Diagnose. Jeder Weg zur Diagnose ist individuell und meine Erfahrungen spiegeln möglicherweise nicht die Erfahrungen anderer wider. Wenn du das Gefühl hast, ADHS oder anderer gesundheitlicher Probleme zu haben, dann wende dich bitte an qualifizierte medizinische Fachkräfte.

Was ist ADHS?

ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung), ist eine neurologische Entwicklungsstörung. Sie beginnt im Kindes- und Jugendalter, kann aber auch im Erwachsenenalter weiter bestehen. Die Symptome umfassen Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität, wobei nicht alle Betroffenen alle drei Symptome aufweisen müssen.

ADHS oder ADS?

In der Vergangenheit wurde ADS als eigenständige Störung betrachtet, die sich durch Unaufmerksamkeit ohne Hyperaktivität auszeichnete. Heute wird dieser Begriff weniger verwendet, da die Symptome fließend ineinander übergehen. Der ICD-11 unterscheidet vor allem drei hauptsächliche Formen von ADHS:

  1. 6A05.0: überwiegend unaufmerksame Darstellung
    Alle diagnostischen Voraussetzungen für eine Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung sind erfüllt, und es überwiegen unaufmerksame Symptome.
  2. 6A05.1: vorwiegend hyperaktiv-impulsive Darstellung
    Alle diagnostischen Voraussetzungen für eine Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung sind erfüllt, und es überwiegen hyperaktive und impulsive Symptome.
  3. 6A05.2: kombinierte Darstellung
    Alle diagnostischen Voraussetzungen für eine Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung sind erfüllt, und sowohl hyperaktiv-impulsive als auch unaufmerksame Symptome sind klinisch bedeutsame Aspekte des aktuellen klinischen Bildes, wobei keines der beiden eindeutig überwiegt.

Die ICD-11 ist eine internationale Klassifikation für Krankheiten und Gesundheitsprobleme, die von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) entwickelt wurde. Sie dient dazu, medizinische Diagnosen einheitlich zu verschlüsseln und zu erfassen. Sie trat im Jahr 2022 in Kraft und wird schrittweise in den Gesundheitssystemen weltweit eingeführt. In Deutschland wird die ICD-10 nach heutigem Stand noch häufiger verwendet, da die ICD-11 noch nicht vollständig implementiert ist. Dort werden die Subtypen der ADHS noch weniger unterschieden.

Die Intensität und Kombination der Symptome variiert also von Person zu Person, was ADHS zu einer vielfältigen und individuellen Erfahrung macht.

ADHS bei Frauen

In meiner Vergangenheit dachte ich lange, ich sei hochsensibel, da ich schon immer sehr offen für Reize aller Art war und mich oft von meinen Emotionen und Gedanken überfordert fühlte. Retrospektiv betrachtet waren jedoch viele meiner Unsicherheiten in Wirklichkeit Ausdruck meiner ADHS.

Während Jungen oft auffälligere Symptome wie Hyperaktivität zeigen, neigen Mädchen und Frauen, aber auch erwachsene Männer tendenziell eher zu innerer Unruhe, Selbstzweifeln und einer Tendenz zur Überkompensation. Diese Symptome werden häufig entweder komplett übersehen oder als Stress, Angstzustände oder Depressionen fehlgedeutet. Das führt dazu, dass besonders viele Frauen erst im Erwachsenenalter diagnostiziert werden, wenn sie bereits Jahre mit den Herausforderungen gekämpft haben.

ADHS kann auch mit der Borderline-Persönlichkeitsstörung verwechselt werden, da beide Erkrankungen von Impulsivität und emotionaler Instabilität gezeichnet sein können. Eine sorgfältige Diagnose ist deshalb umso wichtiger, um die richtige Behandlung sicherzustellen.

Mein Weg zur Diagnose

Der Zusammenbruch

Es ist alles etwas merkwürdig. Schon lange sagte ich beiläufig so Dinge wie „haha, mein Hirn ist wie auf ADHS“, ohne mir wirklich darüber bewusst zu sein, was das bedeutet. Ich hatte krasse Stereotypen im Kopf und dabei noch absolut nicht im Sinn, dass ich mit dieser beiläufigen Aussage nur annähernd Recht haben könnte.

Mein Besuch der Messias-Tour von Timon Krause im November 2024 war dann ein entscheidender Moment für mich. Seine offenen Worte über psychische Gesundheit und ein Hypnoseexperiment, das mich tief berührte, ließen mich über meine eigenen psychischen Belastungen nachdenken. Ich litt nach der Show – wie so oft in den vergangenen Monaten – mal wieder tagelang unter starken Magenschmerzen und fühlte mich überfordert und leer, was mich schließlich dazu brachte, mich zu meiner Hausarztpraxis zu schleppen. Zunächst wurde ich mit üblichen Tipps wie Sport und Entspannung versorgt, doch als diese nicht halfen, wurde klar, dass tiefer liegende Probleme vorliegen mussten.

Ich begann, mich und mein Leben umfassend zu reflektieren. Währenddessen entdeckte ich in den sozialen Medien Beiträge und Videos über ADHS, die mich zunehmend stutzig machten. Mir war bewusst, dass es sich auch oftmals um falsche Zuschreibungen handelt. So berichten zum Beispiel die Johanniter über eine Studie, die angibt, dass Rund die Hälfte der TikTok Videos über ADHS Falschinformationen oder zumindest Ungenauigkeiten enthält. Das hielt mich jedoch nicht davon ab, tiefer und tiefer in das Thema einzusteigen und immer mehr zu denken: Könnte das etwa die Lösung sein?

Trotz der Sorge, dass das alles nur als Trendiagnose abgestempelt werden könnte, beschloss ich, meine Hausärztin auf die Möglichkeit ADHS aufmerksam zu machen. Sie zeigte sich dem Thema gegenüber offen und riet mir zur Psychotherapie, doch aufgrund der sonst viel zu langen Wartezeiten suchte ich nach einer privat bezahlten Diagnostik. Diese Entscheidung war nicht leicht, aber ich war verzweifelt und musste schnellstmöglich Klarheit haben.

Die Diagnostik

Während meiner Diagnostik wurde ich ausführlich interviewt und dabei beobachtet, füllte allerlei Fragebögen und digitale Tests aus. Wie schon von mir erwartet stellte sich zumindest ein Elternteil zunächst quer und schrie mich während der Beantwortung eines Fremdwahrnehmungs-Fragebogens zu meiner Kindheit so lange an bis ich weinte. Man wolle mich ja nur in eine Schublade stecken, die Fragen seien viel zu suggestiv und überhaupt würden nur Helikoptereltern solche Dinge wissen. Weiterhin fiel mir im Nachhinein auf, dass viele der Fragen sehr unterschiedlich zu meiner Wahrnehmung beantwortet wurden, was ich während der Diagnostik auch offen meiner Ansprechpartnerin gegenüber kommunizierte. Diese tröstete mich damit, dass eine solche Abwehrhaltung aus verschiedenen Gründen wie etwa Unwissen oder Schuldgefühlen recht häufig vorkomme. Alternativ zu einem ergänzenden Gespräch mit einem Elternteil wurde dann mein jetziger Partner interviewt, der seinen Gesprächstermin als besonders interessant empfand, weil es ihm so vorkam, als habe mich meine Diagnostikerin bereits komplett durchschaut. Da er selbst soziale Arbeit studiert hat und beruflich auch viel mit Kindern mit ADHS zu tun hat, konnte er das Gespräch auch auf professioneller Ebene bewerten und gab mir positives Feedback zur Methodik der Diagnostik.

Lange Rede (…auch typisch für ADHS…), kurzer Sinn: Im Januar 2025 bekam ich die Nachricht dann endlich schwarz auf weiß. Ich habe den ADHS-Mischtypen und obendrein eine rezidivierende depressive Störung mit gegenwärtig mittelgradiger Episode als Komorbidität. Heißt: Die Wahrscheinlichkeit ist extrem hoch, dass ich depressiv bin, weil mein ADHS bislang nicht erkannt wurde und ich mich so durch mein Leben geschleppt habe. Ich habe jedoch auch weiterhin noch einen weiten Weg vor mir. Heute am 06.02.2025 habe ich endlich adäquate psychiatrische Anbindung gefunden und in knapp über zwei Wochen werde ich bei einem Facharzt sitzen, da ich gern die medikamentöse Behandlung ausprobieren möchte, um besser im Alltag zurechtzukommen.

Meine Symptome

Kleinkindalter & Grundschule

Schon als Kleinkind bestieg ich große Möbelstücke und begrub meinen Bruder darunter. In meiner Grundschulzeit flog ich lange unter dem Radar: Ich konnte schon im Kindergartenalter lesen und auch einigermaßen schreiben. So „bereicherte“ ich meine Grundschulklasse und auch mein sonstiges Umfeld früh mit vielen mitunter klugscheißerischen Beiträgen und verzückte vor allem meine Lehrerinnen mit meinem Wissensvorsprung. Parallel war ich standardmäßig als das nette Mädchen sozialisiert, das sich zu benehmen hatte und nur hinter verschlossenen Türen mit ihren Brüdern die eine oder andere Prügelei veranstaltete. Was meine Lehrer*innen so auch nicht bemerkten, war meine intensive Tagträumerei und mein fehlender Sinn für Ordnung. Denn im Hintergrund organisierte vor allem meine Mutter meine Schulsachen und räumte ungefragt mein Zimmer auf (ich hasste es!), während ich dazu neigte, ständig Stifte, Schere, Kleber, Deckweiß, Löschblätter, Lineal, Geodreieck und Zirkel zu verlieren. Auch meine Angst vor Fehlern blieb unentdeckt: Musste ich einmal eine Berichtigung für eine Arbeit schreiben, bearbeitete ich die komplette Aufgabe neu, da ich mir meine eigenen Fehler nicht ansehen konnte und wollte. Tatsächlich eignete sich meine Mutter sogar meine Handschrift an und übernahm hin und wieder für mich langweilige Aufgaben wie in Geometrie oder Mathematik. Bekam ich nur eine Note 2 oder 3, dann fing ich schon zu heulen an – was ich damals noch auf den Leistungsdruck meiner Eltern schob. Ich hatte den Eindruck, nur genügen zu können, wenn man mit mir und meinen Leistungen so richtig angeben konnte. Meine Eltern nannten ihre schrägen Methodiken „Erziehung“, während sie mich später immer wieder als „faul“ oder „Nichtsnutz“ betitelten, was mich zusätzlich belastete.

Teenagerzeit auf der weiterführenden Schule

Mein Perfektionismus war mit der Grundschulzeit zunächst noch einigermaßen vereinbar. Richtig anstrengend wurde es aber in der weiterführenden Schule, in deren Laufbahn Stück für Stück neue Fächer und Themen hinzu kamen. Zunächst bemerkte ich einen Leistungseinbruch in Mathematik, da mir die Logik abseits natürlicher Zahlen größtenteils ein Rätsel blieb. Es steigerte sich alles in Richtung Bulimielernen: Fach für Fach lernte stets auf den letzten Drücker und „kotzte“ dann nur einmal die Inhalte für einen Test aus, bevor ich sie direkt wieder vergaß. Statt wirklich konzentriert aufzupassen, unterhielt ich mich viel mit meinen Sitznachbar*innen, verlor mich in Tagträumereien oder kritzelte Blöcke und Hefter voll. Schullektüren las ich nicht, sondern holte mir lediglich Interpretationen aus dem Internet und von Mitschüler*innen. Wenn ich aber mal etwas wusste, machte ich teils eher unangenehm auf mich aufmerksam, um bloß dranzukommen und meine Mitarbeits-Note zu verbessern. So schleppte ich mich von Schuljahr zu Schuljahr, wurde Jahr für Jahr immer weniger diese angebliche „Streberin“, die ich eigentlich nie war. Ich kämpfte so stark um meine Leistungen, dass ich oft mit dem Gedanken spielte, die Schulform zu wechseln oder gleich weit weg aufs Internat zu gehen. Aber ich traute mich nicht, mein gewohntes Umfeld zu verlassen und zog unter massiver Anstrengung den mir vorbestimmten Weg durch. So legte ich mein Abitur noch mit einem Durchschnitt von 2,3 oder 2,4 ab. Dafür, dass ich einst die Überfliegerin war, die einmal eine Klasse überspringen sollte, war das schon alles andere als wirklich gut. Es ist, als wäre ich hinter meinen Möglichkeiten zurückgeblieben.

Freiwilligendienst, Studium und Berufsleben

Nach der Schulzeit begann ich aus Mangel an konkreten Ideen für mein weiteres Leben einen Freiwilligendienst, bei dem ich zweimal wöchentlich Telefondienst hatte. Trotz dieser Erfahrung hasse ich das Telefonieren mit Fremden auch mehr als 12 Jahre später noch. Es stört mich zwar mittlerweile weniger, wenn ich für andere Menschen Anrufe tätige, aber spätestens wenn es um mich selbst geht, überkommt mich die Angst vor Verhaspeln, seltsamen Reaktionen und Ablehnung. Private Gespräche sind aber auch ein Problem, weil ich leicht abschweife und Telefonate sich so über Stunden hinziehen und mir den restlichen Tagesplan ruinieren.
Man könnte nun meinen, mein daran angeschlossenes Studium sei mir besonders leicht gefallen, da es in meinem Interessengebiet lag. Doch die Realität sah anders aus: Die meisten Inhalte waren zu wissenschaftlich und „unnötig kompliziert“ ausgedrückt und interessierten mich allein deshalb nicht wirklich. Deshalb verbrachte ich mehr Zeit außerhalb der Uni, besonders mit dem Bloggen und der Konzertfotografie. Meine Angst vor Abweisung ging dabei so weit, dass ich zwar meine Beiträge alle selbst verfasste, aber einen großen Teil meiner Mails im Hintergrund nicht selbst schrieb.

Letztlich war es auch überhaupt kein Wunder, dass ich für meinen Bachelor die doppelte Zeit benötigte, vier verschiedene Studienjobs mit Zerwürfnissen endeten und mich selbst die Arbeit im Blog irgendwann einengte, weil mir die etablierten Strukturen irgendwann zu viel wurden. Meine Bachelorarbeit schrieb ich in Rekordzeit, las sie jedoch nie zur Korrektur und weigere mich bis heute, sie anderen zu zeigen – aus Angst, als Impostor entlarvt zu werden.

Das Impostor-Syndrom ist mir bis ins Arbeitsleben treu: Trotz der überwiegend positiven Rückmeldungen von meinen Kolleg*innen fühle ich mich oft unsicher. Mein Job erfordert es leider aufgrund der wirtschaftlichen Lage, dass ich mich größtenteils auf Themen konzentriere, die mich nicht wirklich interessieren – etwas, das Menschen mit ADHS generell schwerfällt. Der künstliche Zeitdruck und mein Perfektionismus passen nicht gut zusammen, wenn ich um jede noch so kleine Information wochenlang betteln muss. Es tut mir buchstäblich weh, wenn ich mit strengen Deadlines kämpfe, während sich die Kund*innen danach monatelang Zeit nehmen, um meine Vorschläge dann auch nur eventuell umzusetzen. Tagtäglich muss ich gegen fremdes Halbwissen ankämpfen und habe dabei selbst Angst, als Hochstaplerin entlarvt zu werden.

Konfrontation mit dem unangenehmsten Part meiner Vergangenheit

Buckle up, jetzt wird’s richtig unangenehm. Dazu bedarf es zunächst einer kurzen Einordnung: Menschen mit ADHS zeigen oft eine erhöhte Kreativität, besonders in Bereichen wie Musik, Kunst und Informatik. Da ich mich aufgrund meiner bis dahin nicht weiter definierbaren „Andersartigkeit“ eh schon wie nicht von dieser Welt gefühlt hatte, faszinierte mich mein Schritt in die Musikwelt umso mehr. Plötzlich gab es Menschen, die mich nicht für bekloppt hielten, sondern ähnliche Struggles wie ich hatten und diese in für mich sehr ansprechender Form verarbeiteten. So stürzte ich mich hin und wieder in Hyperfixationen, die zu Crushes wurden, weil – jetzt sind wir mal ehrlich – Musiker*innen auch einfach nochmal etwas netter sind, wenn sie etwas von einem wollen und dann hin und wieder auf zu Verhaltensweisen neigen, die andere Menschen als „flirten“ einordnen würden. Die Wahrheit wird in den meisten Fällen allerdings sein, dass sie mich lange nicht so toll fanden wie ich sie und dass ich ihnen damals einfach Promo und Fotos geben konnte. Außer bei einem gewissen M. – der war ein echter Creep und belästigte mich nach einem Interview und ein paar wenigen Nachrichten- und Blickwechseln ungefragt mit seinen Fetischen.

Doch bestärkt von meinem stark von Teeniefilmen geprägten übermäßig unterstützenden und alles überinterpretierenden Umfeld, hielt ich dann nicht einfach die Klappe. Ich dachte vielmehr an diese krassen Happy Ends aus all den Büchern, Filmen und Serien und sprudelte ohne Rücksicht auf Verluste los. Und nein, hier hörte der Quatsch immer noch nicht auf: In der Regel schickte ich die Nachrichten meist nicht selbst ab oder mied zumindest ab diesem Zeitpunkt bestimmte Teile meines Posteingangs. Ich war dann auch zu feige, die Reaktionen zu lesen oder zu hören, sodass wiederum mein vertrautes Umfeld Zugang zu meinen privaten Nachrichten erhielt, mir diese inhaltlich erklären musste und wiederum Tipps für eine weitere Reaktion gab, diese verfasste und so weiter… Also spätestens da hätte ich doch merken müssen, dass etwas mit mir nicht stimmt?!

Mir ist bewusst, dass mein ADHS keine alleinige Erklärung für dieses Verhalten ist. Aber zumindest zeigt es vielleicht ganz gut auf, wie weit es theoretisch gehen kann, wenn man keine Ahnung davon hat. Meine Verliebtheit hat natürlich in keinem einzigen Fall zu positiven Reaktionen geführt und auch mit meinen „Vertrauten“ aus dieser Zeit habe ich Stand heute keinen Kontakt mehr. Doch zumindest bin ich jetzt an dem Punkt angekommen, mir für diese Peinlichkeiten endlich verzeihen zu können. Falls es dir je ähnlich ging, dann bemühe deine bevorzugte Suchmaschine ruhig einmal nach dem Begriff Limerenz und staune…

Weitere Beispiele von ADHS in meinem Alltag

Falls der reine Fließtext für dich jetzt zu anstrengend war: Hier ein paar meiner „auffälligsten“ ADHS-Symptome in Form einer Liste (zwar mit Erklärungen, aber hey, immerhin eine Liste!)

  • Rejection Sensitivity Dysphoria (RSD): Ich reagiere extrem empfindlich auf Kritik oder Ablehnung und vermeide Situationen, die möglicherweise negative Rückmeldungen mit sich bringen.
  • Hyperfokus vs. gar kein Fokus: Wenn ich mich auf ein interessantes Projekt konzentriere, kann ich stundenlang arbeiten, ohne auf meine Grundbedürfnisse zu achten. Gleichzeitig fällt es mir unendlich schwer, mich für mich uninteressante Themen und Projekte zu motivieren.
  • Probleme mit Übergängen und Unterbrechungen: Übergänge fallen mir schwer – ob duschen gehen (von trocken zu nass und danach die Dusche reinigen müssen) oder in den Arbeitsmodus kommen… Es dauert oft ewig bis ich große Aufgaben mit vielen Schritten überhaupt angehe. Wenn ich in der Erfüllung einer Aufgabe unterbrochen werde, fällt es mir auch eher schwer, danach weiterzumachen.
  • Impulsivität: Ich treffe viele Entscheidungen sehr schnell und setze sie sofort um, wie beim Haarschneiden, spontanen Käufen und DER Deko-Idee, die JETZT SOFORT passieren muss, weil ich sonst schlechte Laune bekomme. Andere Entscheidungen überfordern mich massiv und münden nach kurzer Panik in einem Hyperfokus der stunden- oder tagelangen Recherche.
  • Sensorische Überempfindlichkeit: Ich kann Geräusche schlecht voneinander filtern. Besonders in lauten Umgebungen bin ich schnell überfordert. Ich trage im Alltag ständig ANC-Kopfhörer, um mich vor lauten oder „nervigen“ Geräuschen zu schützen (auch nachts). Ich bin sehr schreckhaft, teilweise sehr lichtempfindlich, bin schnell von Gerüchen überfordert und überempfindlich gegenüber vielen Berührungen. Bestimmte Geschmacksrichtungen oder Texturen ertrage ich nur schwer und kann sie auch mit größter Mühe nicht aushalten.
  • Ideenvielfalt und Umsetzungsprobleme: Ich habe extrem viele Ideen, setze aber nur die wenigsten davon langfristig um. Routinen nerven mich, obwohl ich sie bräuchte. Ich führe extrem detaillierte To-Do-Listen, denen ich oft nicht gerecht werden kann und schreibe teilweise später noch Dinge drauf, nur um sie direkt als erledigt zu markieren. Die fehlende Umsetzung von Aufgaben führt zu einem extrem schlechten Gewissen, aber auch, wenn ich einiges geschafft habe, ist es gefühlt nie genug.
  • Exekutive Dysfunktion: Sperriges Wort, aber eng mit den Umsetzungsproblemen und einem gewissen Overthinking verknüpft. Viele Menschen fangen, wenn nötig, einfach mit Aufgaben an, selbst wenn sie keine Lust darauf haben. Sie tun es einfach, damit es erledigt ist. Mich kostet jede noch so kleine alltägliche Aktivität oft riesige Überwindung. Je weniger ich darauf Lust habe, desto anstrengender und kräftezehrender wird es für mich.
  • Impostor-Syndrom: Ich fühle mich dauerhaft wie eine Betrügerin, die bald entlarvt wird.
  • Schwierigkeiten mit Entspannung: Ich weiß nicht, wie man sich entspannt. Beim Versuch ploppen stets Gedanken in meinem Kopf auf, die mich unter Stress setzen. Ich bin nahezu dauerhaft innerlich unruhig, bei mir sitzt diese Unruhe wie eine dauerhafte Anspannung vor allem im Bereich der Brust. So richtig zu spüren bekomme ich sie seit meinem Zusammenbruch – nun fühlt es sich in etwa so an, als würde ich am nächsten Tag zu einem Taylor Swift Konzert gehen, ohne dass sich die Nervosität je legt.
  • Schlechte Gesprächspartnerin: Ich unterbreche oft andere Leute, ohne es böse zu meinen. Doch anders verliere ich meinen Gedanken zum Thema. Ich mag es nicht, wenn andere Leute zu ausschweifend erzählen und werde dann ungeduldig, sodass ich teilweise ihre Sätze für sie beende. Ich schweife selbst aber schnell vom Thema ab. Ich bringe vergleichbare Erfahrungen zu einem Thema an, auch wenn nicht nach ihnen gefragt wurde (und zeige damit aus meiner Sicht Empathie). Und die größte Kombination aus Glück und Leid für mich: Ich hasse Smalltalk und overshare deshalb massiv, etwa um Gesprächsthemen zu bieten oder Dialoge am Laufen zu halten. Anders würde es auch diesen Blogbeitrag überhaupt nicht geben.
  • Waiting Mode & fehlendes Zeitgefühl: Viele Termine setzen mich so sehr unter Druck, dass ich vorher nur mit viel Mühe etwas tun kann, was nichts mit dem Termin zu tun hat und selbst dann schweifen meine Gedanken ständig dahin und ich verfalle in eine Art Starre. Gleichzeitig habe ich alles, aber kein Zeitgefühl. Ich weiß nie, wie viel Zeit vergangen ist und ich weiß nicht, wie lange ich dafür brauche, bestimmte Dinge zu erledigen und verschätze mich massiv.
  • „Merkwürdiges“ Gedächtnis: Ich kann dir noch Songtexte vom Anfang der 2000er Jahre zitieren, weiß aber nicht, dass mir mein Freund gestern von einem baldigen Termin erzählt hat oder dass ich ihm schon zweimal von einer für mich lustigen Sache erzählt hab. Insgesamt merke ich mir emotionale Momente besser (und Peinlichkeiten FÜR IMMER).
  • Stimming: Beim Warten im Stehen wackle ich hin und her. Bei Stress spiele ich mit einem Fidget Cube, betreibe Skin Picking, beiße seltsam auf meine Zähne, knabbere an den Fingernägeln oder spiele anderweitig mit meinen Fingern, Klicke mit Stiften oder meinem Popsocket am Smartphone, sammle Fussel von meiner Kleidung. Oft fällt es mir leichter, mich zu fokussieren, wenn ich währenddessen Musik (entweder in einer nicht zur Aufgabe passenden Sprache oder ganz ohne Sprache) höre. Bei Hausarbeit helfen Musik oder Podcasts. Und sicher habe ich einige Stimming-Techniken vergessen…
  • Suchtverhalten: Ich habe ehrlicherweise eine bisher noch einigermaßen kontrollierbare Tendenz zum Glücksspiel und hole mir meine Dosis Dopamin zu oft in sozialen Medien ab.

Die gesellschaftliche Falschwahrnehmung von ADHS

Hier noch ein paar gängige Vorurteile zu ADHS und ein jeweils dazu passender Konter:

„Jede*r hat ein bisschen ADHS“

Wenn du dir nun denkst, dass „halt jede*r ein bisschen ADHS hat“, dann muss ich dir vehement widersprechen. Zwar zeigen viele Menschen gelegentlich Verhaltensweisen wie Unaufmerksamkeit oder Impulsivität, doch ADHS ist eine neurobiologische Störung mit klinischer Relevanz, die über normale Alltagsschwierigkeiten hinausgeht.

Für eine ADHS-Diagnose müssen die Kernsymptome (also Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität, Impulsivität) längerfristig und situationsübergreifend auftreten und das Leben der betroffenen Person deutlich erschweren. Jeder Mensch kann kurzfristig unkonzentriert oder impulsiv sein, aber bei ADHS sind diese Merkmale chronisch, stark ausgeprägt und führen zu erheblichen Beeinträchtigungen in Schule, Beruf oder sozialen Beziehungen.

„ADHS ist eine Modediagnose“

ADHS ist heute deutlich sichtbarer als noch vor einigen Jahren, da soziale Medien und Online-Plattformen die Verbreitung von Informationen und Erfahrungsberichten vereinfachen und mit ihren Algorithmen regelrechte Kettenreaktionen auslösen können, wodurch wiederum noch Menschen offener über ihre persönlichen Erfahrungen sprechen. Besonders Mädchen und Frauen waren bislang stark unterdiagnostiziert, da die meisten bislang nicht in das Bild des klassischen „Zappelphilipp“ passten. Nur weil die Gesellschaft mittlerweile stärker auf das Thema sensibilisiert ist, heißt das deshalb nicht, dass es sich bei ADHS um eine Modediagnose handelt, da die strengen Diagnosekriterien ja weiterhin in der Praxis Anwendung finden.

„ADHS ist nur eine Kinderkrankheit“

Auch die Annahme, dass ADHS ja nur eine Kinderkrankheit sei, ist nachweislich falsch. Bei bis zu 60 % der Betroffenen bleiben Symptome wie Unaufmerksamkeit, Impulsivität und innere Unruhe auch im Erwachsenenalter bestehen. Studien zeigen eine Prävalenz von 2,5–5 % bei Erwachsenen – das sind Millionen Menschen, die lebenslang mit den Folgen der Störung kämpfen.

Unbehandelt führt ADHS im Erwachsenenalter häufig zu:

  • Komorbiditäten wie Angststörungen, Depressionen und Süchten.
  • beruflichen Probleme: Jobverlust durch schlechte Anpassungsfähigkeit, häufige Konflikte, „Nichts auf die Reihe bekommen“
  • Beziehungskonflikten durch impulsive Reaktionen und/oder emotionale Instabilität

Schätzungen zufolge sollen 72% der Gefängnisinsass*innen in westlichen Ländern (überwiegend unbehandeltes) ADHS haben. Der Zusammenhang: gesteigerte Impulsivität und ein gestörtes Sozialverhalten können kriminelles Verhalten begünstigen. Viele ADHS-Patient*innen fühlen sich wie Außenseiter*innen, geraten somit leicht in „schlechte“ Gesellschaft, was ein Abrutschen in die Kriminalität leichter ermöglicht. Auch Drogenabhängigkeit ist ein wichtiger Risikofaktor für Kriminalität bei ADHS-Betroffenen.

Weitere Informationen zu den Folgen von ADHS findest du bei Bedarf hier.

ADHS-Medikamente machen abhängig

Die bekanntesten ADHS-Medikamente wie Methylphenidat (bekannt als Ritalin & Medikinet) und das Amphetamin Lisdexamfetamin (bekannt als Elvanse) haben theoretisch ein Abhängigkeitspotential, wenn sie unsachgemäß verwendet werden. Bei korrekter Anwendung nach ärztlicher Verordnung ist das Risiko jedoch nahezu ausgeschlossen. Die Verschreibung dieser Medikamente ist streng reguliert, da es sich hier um Betäubungsmittel handelt, was extrem strenge Auflagen und Kontrollen mit sich bringt.
Eine Alternative zu den bereits genannten Medikamenten ist Atomoxetin (bekannt als Strattera), das gar kein Abhängigkeitspotential hat und auf einem normalen Rezept verordnet wird.

In der Realität neigen viele ADHS-Patient*innen sogar eher dazu, die Abholung des Rezepts oder der Medikamente, sowie die Einnahme ihrer Medikamente zu vergessen, was die Wirksamkeit der Behandlung beeinträchtigen kann. Von einer Abhängigkeit kann hier also selten die Rede sein. Tatsächlich kann die Behandlung mit dem passenden Medikament sogar das Risiko für spätere Substanzabhängigkeiten senken, indem sie jene Symptome effektiv lindert, wegen der ursprünglich zu Drogen gegriffen wurde.

Vorläufiges Fazit

Obwohl ich gefühlt erst am Anfang meiner Reise stehe, ist eines sicher: Die Diagnose ADHS hat mein Leben grundlegend verändert und hat mir jetzt schon dabei geholfen, mich selbst besser zu verstehen. Ich hoffe, dass meine Geschichte vor allem anderen Frauen helfen kann, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben. Es ist wichtig, dass wir mehr Aufmerksamkeit auf die oft übersehenen Symptome von ADHS bei Mädchen und Frauen legen und Unterstützung bieten, damit sie früher diagnostiziert und behandelt werden können. Nur so können wir sicherstellen, dass alle Menschen mit ADHS die Chance bekommen, ihr volles Potenzial zu entfalten.

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