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[dropcap]W[/dropcap]enn sich signifikant viele Familien mit großem Gepäck nahe des Flughafens Berlin-Tegel herumtreiben, kann dies nur zwei Dinge bedeuten: es ist gerade Urlaubszeit und zusätzlich dazu lädt der zweitgrößte deutsche Lebensmittelhändler zu REWE Family ein.

Orientierungslosigkeit irgendwo kurz nach einer Kleingartenanlage irgendwo am gefühlten Ende der Welt. Als die Straßen nun auch noch immer mehr Spuren bekommen, zeichnet sich Ratlosigkeit in unseren Gesichtern ab. Ja da hinter dem See hören wir doch aber etwas… müssen wir jetzt echt zu dieser Autobahnbrücke da hoch? Wieso nochmal haben wir nicht den Bus genutzt?
Eins wissen wir jetzt schon – der ach so Zentrale Festplatz befindet sich unserer Auffassung nach irgendwo zwischen Pampa und Wüste. Na wenn das mal nicht auf die auf uns wartende Veranstaltung schließen lässt…

Endlich kommen wir an. Schon am Eingang wedeln uns riesige Werbebanner des Lebensmitteleinzelhandels entgegen. Kaum betreten wir das überwiegend eher staubige Gelände, fühlen wir uns wie inmitten eines riesigen Basars. Augenblicklich werde unsere Worte von Marktschreiern übertönt. So oft wie der eine anpreist, wie frisch doch das Obst sei, glaubt er wohl selbst, er habe die Melone in fünf Metern Entfernung eigenhändig gepflückt. Schnell weiter.

Die Beautylounge links liegen gelassen, vorbei an Star Wars, Chipstüten und diversen überzuckerten Erfrischungsgetränken betreten wir den Bereich vor der Bühne. Meine Begleitung des Tages hatte mir gegenüber den Wunsch geäußert, Staubkind sehen zu wollen. Und was soll ich sagen? ich bin erschüttert. Nun sei niemandem sein eigener Musikgeschmack schlechtzureden (siehe meine Gedankengänge zum Thema), doch was dort passiert, lässt mich zeitweise erstarren. Mal davon abgesehen, dass ich mir von der Präsenz des Interpreten etwas mehr erhofft hatte, finden wir uns hier musikalisch irgendwo zwischen Schlager und Unheilig wieder. Um der Sache noch eins draufzusetzen meine ich, eine Art akustische Wand wahrzunehmen. Da musizieren zwar Menschen augenscheinlich auf der Bühne, es klingt aber irgendwie zum Teil wie ein mehr schlechtes als rechtes Playback. Da nützt auch das für alle Setlisten dieser zeit streng obligatorische Hinhocken und Aufspringen oder das Holen von Fans auf die Bühne nichts, es springt keinerlei Funke über. Livefeeling geht irgendwie anders.

Aus dem Augenwinkel erblickt, pirschen wir uns nun vorsichtig an eine Wasserspendestelle heran und inspizieren sie und ihre Funktionsweise ausführlich. Nach uns weiß dann irgendwie auch der Rest des Publikums davon und wir können beobachten, wie die Leute von nun an immer wieder dort hin pilgern, um kostenloses kaltes Wasser zu zapfen. Diese Möglichkeit rechne ich den Organisatoren übrigens hoch an, da es ja sonst in Sachen Schatten und Co. eher schlecht auf dem Gelände aussieht. Hat man nicht gerade eine Familie von einer Bank im Schatten eines Sonnenschirms geschubst, schmort man eben in der prallen Sonne vor sich hin. Bloß das Wenden nicht vergessen!

Da ich eh bereits ohne irgendwelche Erwartungen angereist bin und ohnehin in dieser Hitze schon so manche Röstaromen entwickle, stört es mich auch nicht, als meine Begleitung auch noch bis zur nächsten Band direkt vor der Bühne verweilen möchte. Der Weg bis dahin ist allerdings hart, denn kein Geringerer als Guido Cantz persönlich bedient das Schlechte-Witze-Maschinengewehr. Jeder Schuss ein Volltreffer. Nein, Herr Cantz, es ist immer noch nicht witzig, dass eine Helena aufgrund des griechischen Namens eh kein Taschengeld bekäme…
Wird der wasserstoffblonde Pausenclown dann einmal ruhig gestellt, so geschieht das nur aufgrund Werbeunterbrechung, die großflächig über den Bühnenhintergrund flimmert. Langsam mutet es wie Gehirnwäsche an. Doch genau so ist sie, die aggressive Werbung. Der fallen im Übrigen auch die Sicherheitskräfte im Bühnengraben zum Opfer, die durch ihre roten Shirts und Caps optisch bestenfalls als Lagerarbeiter durchgehen.

3viertelelf betreten die Bühne. Ich frage mich, wieso sie in Sachen Namensgebung so inkonsequent waren. 3viertelelf, aber nicht 3viertel11 oder gar – laut deutscher Rechtschreibung korrekt – dreiviertelelf. Wieso tut man das, wieso?
Tatsächlich könnte man diese Band wohl schon von Stefan Raab oder gar von Radio Fritz kennen. Geht mir jetzt nicht so, ist aber irgendwie kein Weltuntergang. Zwar sollen sie nun auch beim nächsten Bundesvision Song Contest für Sachsen-Anhalt antreten, aber wenn ich ehrlich bin, rechne ich mir da keine großen Chancen für sie aus. Also sollte es jedenfalls nicht nur um Optik gehen. Denn es macht ja schon viel her, wie die bildschöne mit einer Radiosprechstimme gesegnete Sängerin Angela über die Bühne tapst und sich ausgesprochen ästhetisch bewegt. Auch die Kerle sehen nicht gerade übel aus und sind mehr als nur einen Blick wert, doch die optischen Reize zählen höchstens bei DsdS-„Schnittchen“ und Boybands mehr als die Musik. Apropos Musik – die lässt sich im Übrigen so in Richtung Electro-Pop einordnen, irgendwo zwischen „kann man halbwegs dazu tanzen“, „ey, die Sängerin hat ’ne Melodica“ und „wieso zur Hölle vergleicht man den Herzschlag Verliebter mit einem Kolibri, das sprachliche Bild ist irgendwie blöd“. Klingen nett und nicht wie die totale musikalische Sonnenfinsternis, aber zwischen all den Bands im großen Haifischbecken viel zu belanglos.

Für noch viel belangloser halte ich schließlich das ansonsten gebotene Programm auf dem Gelände. Ob Schokoladenriese, Getränke-, Brot-, Waschmittel- oder Pizzahersteller, hier geht es darum, seine Produkte in Massen an die Menschen zu bringen und die eigene Marke in sämtlichen Hirnen festzubrennen – und seien dafür kleine Minion-Rucksäcke oder vielleicht auch die eine oder andere Seele eines Verkäufers nötig. Der einzige wirklich erfrischende Stand dazwischen ist dann wohl der mit Dingen wie Seifenblasenpistolen. Für mehr Seifenblasen in dieser Welt!

Ansonsten schockt mich aber als Veganerin ein weiterer Fakt – der absolut kopflose Konsum. Ob „lecker Brötchen mit Käse und Schinken“, die altbekannten Chips mit nicht auf der Verpackung deklariertem Wild-Aroma, die allseits beliebten süßen bunten Bärchen mit Tierknochen und -häuten, „die halbe (Tiefkühl-)pizza für gerade einmal einen Euro“ – dieser Irrsinn macht mich irgendwie seelisch fertig. Nach den obligatorischen toten Tieren auf dem Grill und einem kurzen Blick auf irgendwelche Autos und die Kochbühne mit Testessbereich dann aber der absolute Kracher: natürlich ist es mir bewusst, dass es sich beim Veranstalter um die REWE Group handelt. Umso lustiger mutet aber das Angebot der Essensmeile an. Wo man sonst mit bester Qualität werben würde, spielt man hier mit offenen Karten und etabliert bei jedem Getränk den Namen der (billigen) Eigenmarke. Hier gibt es keine Orangenlimonade oder Cola, hier gibt es nur ja!-Orangenlimonade und -cola. Das zieht sich sogar über sämtliche Nahrungsmittel hinaus. Wo es sonst um Frische gehen würde, spielt der Veranstalter mit offenen Karten. An der Asia-Bude gibt es dann also die tiefgekühlten günstigen Mini-Frühlingsrollen. Immerhin sind die wenigstens vegan. Doch mein Herz schlägt eben für Kartoffelchips und so besteht mein Mittagessen als genau solchen, aber eben frisch hergestellt und von mir persönlich lediglich mit Salz gewürzt. Nahrhaft! Um die Vitaminbilanz des Tages noch nach oben zu reißen, gönne ich mir dann noch einen Smoothie, der zumindest im Ansatz gesund ist.

Die Veranstaltung nimmt an Fahrt auf. Wir scheitern wiederholt am Versuch, an eins dieser Tickets für ein Umstyling meiner Begleitung zu kommen und landen frustriert in einem Kinderparadies der Sinne. Hier tanzt eben auch mal ein brilletragendes milchgefülltes Schokoladenbonbon zum Trommeln kleiner Kinder, während daneben ein Barfußpfad bestritten wird. Kann man ja mal machen. Oder auch nicht. Gegenüber lassen sich gerade ein paar kleine Kinder zwischen zwei Stormtroopern fotografieren und können das Bild anschließend sofort mit nach Hause nehmen und so langsam fühlt sich alles wie ein schlechter Drogentrip an. Doch ich vergaß, ich verzichte ja bewusst auf alle Mittelchen dieser Art…

Irgendwie vernehme ich dann unter dem handwerklich gar nicht so schlechten DJ-Gemixe an der Beautylounge immer wieder diese prägnante Stimme. Diese unterbewusste akustische Wahrnehmung wird schließlich so stark, dass wir uns auf den Weg zur Musikbühne begeben. Der Eindruck hat nicht getäuscht. Dort stehen gerade Luxuslärm auf der Bühne. Das sind ja eigentlich die, die mich seit diesem Sommer ungefähr überall hin verfolgen und ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Dazu knallt auch noch weiterhin mächtig die Sonne. Vielleicht ist es das, was mich irre macht, eventuell ist die Atmosphäre aber auch tatsächlich eine andere – an diesem Tag finde ich den Auftritt lange nicht mehr so schlimm wie noch bei den Ruhr Games in Essen. Natürlich verdrehe ich die Augen, wenn sich Jini bei „Liebt sie dich wie ich“ beherzt auf ihren eigenen Po schlägt oder den Bandmitgliedern von hinten anstößig nahe kommt. Auch die etwas zu flotten Hüftbewegungen des Bassisten (der mittlerweile übrigens auch solo als „Batomae“ unterwegs ist) rufen ein wenig Fremdscham in mir hervor. Luxuslärm verkörpern für mich halt einfach eins – Berufsjunggebliebenheit. Mit Publikumsaktionen wie goldenen Buchstaben, welche den Namen „Jini“ formen oder der Anflug von Gummibärchen und Schokolade bei „Mehr Gewicht“ fremdel ich sehr. Das ist einfach nicht mehr meine Welt. Doch dafür singe ich, wenn auch eher leise, bei anderen Songs mit oder nicke zumindest im Takt. Irgendwie bewegt es mich halt doch mehr als beim letzten Mal. Vielleicht liegt es ja auch daran, dass sie auch mit ausgefallenen In Ears noch ihre Songs performen können, dass Jini problemlos die Tonleiter hinauf und hinunter röhrt, großen Spaß mit einer kleinen Konfettipistole aus dem Publikum hat oder großes Mitgefühl für all die anwesenden Singles hegt. Oder halt doch an der Sonne.

Wir begeben uns ein weiteres Mal auf die Pirsch. Meine Begleitung möchte endlich umgestylt werden. Um ihr das zu ermöglichen, gehen wir wieder zur Beautylounge. Plötzlich wird meine Begleitung angesprochen, ob ich Keyboarderin einer Band sei. Mist, kann ich also meine Gymnasiums-Keyboardskills nicht mehr verbergen! Sofort würde der etwas betagtere Mann mich für ein Bandprojekt in den Kinderschuhen in Beschlag nehmen, doch ich lehne ab. Goodbye, große Musikkarriere!

Immerhin erhalten wir nun endlich eine Wartenummer für meine Begleitung und so begeben wir uns pünktlich zu Beginn des Auftritts von Christina Stürmer zurück zur Bühne. Eigentlich sind die Erwartungen eher gering und trotzdem bin ich im Glauben, kaum Songs von ihr zu kennen, äußerst gespannt auf das nun Folgende. Als Christina dann endlich die Bühne betritt, zieht sie mich direkt in ihren Bann. Ich habe selten so eine wunderschöne und natürliche Frau wie sie erlebt. Die helleren Haare, das lässige Printshirt, die knappen Shorts und Espandrilles und ihr strahlendes Lächeln stehen ihr. Sie spielt mit den Blicken, animiert zum kraftvollen Mitsingen – Christina weiß, wie man mit dem Publikum spielt, auch wenn dieses doch eher zaghaft interagiert.
Es schockiert mich kurzzeitig, als die Österreicherin das doch eigentlich so Eindeutige ausspricht. Ein großer Teil des anwesenden Publikums war zu Zeiten ihres musikalischen Durchbruchs noch nicht einmal geboren. Ich muss lachen und singe dafür umso textsicherer bei einem beachtlichen Teil der Lieder mit. Das fällt ihr auch auf und sie strahlt umso mehr.
Es ist wirklich faszinierend – während ihres kompletten Auftritts erlebe ich ein einziges Flashback und es fühlt sich bei mir fast so an wie wenn ich Mark Forster live sehe. Und wer mich und meine Obsession für seine Musik und seine positive Energie kennt, der weiß, wie viel mir das bedeutet. So bin ich dann echt etwas traurig, als die Show nach guten 45 Minuten vorbei ist und hole eigentlich nur noch meine nun durchgestylte Begleitung ab, mit der ich zwischen mit Trolleys und Tüten vollgepackten Menschen den Shuttlebus zum nächsten U-Bahnhof nehme.

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